Nichts.

Nach dem ersten Suizidversuch hat mir jemand gesagt, ich sei wie eine ganz, ganz alte Greisin, die so krank ist und so viel erlebt hat, dass sie einfach nichts mehr will, nicht leben, nicht atmen, nichts mehr erleben, nur endlich friedlich einschlafen, für immer.

Nach dem zweiten Suizidversuch hat mir jemand gesagt, ich sähe aus, als sei ich das traurigste Mädchen der Welt.

Ich frage mich manchmal, was sich seit damals geändert hat. Geht es mir besser? Ist die Depression fort, oder wenigstens gelindert? Ist mein Leben lebenswerter geworden? Es sind schon einige Jahre ins Land gegangen. Ich bin nicht mehr 15, nicht mehr 19, ich rase auf meinen 27. Geburtstag zu. Das Alter, in dem ausgelutschte Rockstars an Drogenkonsum oder Autounfällen oder beidem gleichzeitig krepieren.

Und ich?

Ich werde 27, und außen fängt mein Leben an. Es könnte momentan eigentlich kaum besser laufen:

Meine Ausbildungsvorbereitung habe ich mit den besten Noten durchgehalten. Alle Erzieherinnen und alle Ausbilder, die Sachbearbeiterin und meine Psychologinnen sind hellauf begeistert von mir. Ich hätte eine ruhige, doch präsente Ausstrahlung, ich sei ein furchtbar angenehmer Mensch, man rede so gerne mit mir. Ich sei so selbständig, und so talentiert und intelligent. Ich habe die Zustimmung zur Ausbildung bekommen, schriftlich, und die beginnt am 24. August, ca. 3 Wochen nach meinem 27. Geburtstag.

Als Kind wollte ich Rockstar sein, ich wollte meine Gefühle ins Mikro schreien. Ich wollte Texte schreiben, die echt waren. Texte, die auf dem Leben basieren, die so echt sind, dass ich auf der Bühne manchmal weinen müsste. Ich wollte immer schon echt sein, immer schon alles hinausschreien, was in mir war. Ich wollte auf der Bühne stehen, mit nacktem Herzen und wahren Worten. Ich wollte all das sein, solange es ginge. So lange, bis ich, vielleicht, meinetwegen, mit 27 endgültig verglüht, von Drogen zerfressen vom Hochhaus fliege, abwärts, aber immerhin.

Ich wurde kein Rockstar, ich wurde nicht mal ich. Ich schrieb keine Texte, ich zeigte keine Gefühle, ich stand nie auf einer Bühne, habe nie ein Instrument gelernt, und meine Stimme kann ich nicht ertragen.

Stattdessen wurde ich eine Marionette, ein Irgendwas, das irgendwie versuchte, das zu sein, was man von mir erwartete. Jedes Kleinkind lernt, dass Dreiecke nur in Dreiecklöcher passen, Vierecke nur in Vierecklöcher. In der Hinsicht war wohl jedes Kleinkind schlauer als ich. Denn ich war ein Hexagon, das all die Jahre verzweifelt versuchte, seine Ecken soweit einzuziehen, dass es in die perfekte glatte Kreisform passte. Doch kein Hexagon der Welt, kein Mensch der Welt, kann alle Ecken und Kanten gleichzeitig einziehen. Nichtmal den Bauch können wir lang genug einziehen, um auf diesem einen Foto perfekt zu sein.

Ich war ein Schüler, der gute Noten schrieb, und sie nie gut genug schreiben konnte, und dafür gescholten wurde, zwar der beste der Schule, aber nicht der mit glatten Einsen zu sein. Ich war ein Verkäufer, der nicht verkaufen konnte. Ich war ein Fachabiturient, der nicht die Nerven hatte fürs Abitur. Ich war ein Gastronomiehelfer, der zu langsam war. Ich war ein Bibliotheksassistent, der mit Büchern konnte, aber mit Menschen nicht. Ich war eine Frau, wunderschön und attraktiv, unterwürfig und folgsam. Ich war eine Leiche, die nicht tot genug war, um tot zu sein. Ich war nie das, was ich immer sein wollte. Ein Rockstar nicht, ein Künstler nicht, ich selber nicht.

Ich werde 27 und habe im Grunde nur eines gelernt: Ich kann nicht sein, was ich sein sollte. In den Augen der Anderen. Und so wurde ich mit 15 eine alte Greisin, so krank und tot innendrin, dass ich nur einschlafen wollte. So wurde ich mit 19 das traurigste Mädchen der Welt. Und so wurde ich, werde ich, jetzt, endlich, schon, unweigerlich und ohne Atempause, 27 Jahre alt. Siebenundzwanzig Sommer, Herbste, Winter, Frühlinge. Siebenundzwanzig mal zwölf Monate mal ungefähr 30 Tage, in denen mein Leben kaum mehr war als … als…

Was eigentlich?

Mir gefällt die Metapher von der Metamorphose, von der hässlichen Raupe zum schönen Falter, der endlich hinfortfliegen kann aus allem, was er bislang für seinen Horizont gehalten hatte. Doch Falter leben nicht lange. Und werden auch traurige Raupen zu schönen Schmetterlingen? Werden innerlich zerfressene, zerrissene Raupen überhaupt irgendetwas? Ich meine, mehr als nur Futter für andere?

Sieben-und-fucking-zwanzig. Ich habe viel vor. Außen. Ich fange die Ausbildung an, ziehe in absehbarer Zeit in eine eigene Wohnung, zusammen mit meiner geliebten Katze. Für die Ausbildung bin ich mehr als klug genug, das wird schon. Meine Zukunft fängt an, jetzt wird alles besser. Und so weiter. Glauben kann ich es nicht. Innendrin ist alles, nur keine Freude. Innendrin ziehe ich mich vorwärts, nicht aus Freude oder Ehrgeiz, sondern aus Angst vor Hartz4. Aus Angst vor dem Loch, in dem ich saß, als ich gar keine Perspektive hatte. Ich sollte dankbar sein. Und immer wieder werde ich gelobt, wie viel ich doch schon geschafft hätte, um genau jetzt soweit zu sein wie ich jetzt bin. Doch es fühlt sich nicht so an.

Ich stecke im Körper einer dicken Frau. Einer Frau, die sich in den letzten Jahren vom Gewicht fast verdoppelt hat. Die Folgen von ein paar Jahren Depression und Hartz4, und aus beidem resultierendem Bewegungsmangel und Isolation. Ein offenes Gefängnis, hab ich immer gesagt, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Du kannst gehen wohin Du willst. Aber Du hast weder Geld noch Kraft, es zu tun. Also bleibst Du sitzen, in Deinem Sarg aus Selbsthass, Schulden, Angst und Sehnsucht nach dem Ende. Und niemand darf es wissen.

Der Körper, diese „Frau“, bin nicht ich. Sie ist meine Maske und mein Sarg, an mir festgewachsen, und allzu schnell werde ich sie nicht los. Man wird lange schneiden müssen, um mich davon zu befreien. OPs wird es geben.

Ich träume. Ich habe Wünsche. Die Gedanken, die ich habe, die Bilder im Kopf, wenn ich mal kurz Hoffnung habe. Die sind es, die mich manchmal ein bisschen erhellen. Ich war so lange jemand anderes, dass ich unendlichen Hunger habe, danach, zu erfahren, wie es ist, ich zu sein. Ich bin hungrig nach mir selbst. Nach all den Seiten von mir, die ich nie sein durfte. Ich weiß nicht, wo ich die Kraft herbekommen soll, um für das alles zu kämpfen. Für mich zu kämpfen. Ich weiß nicht, wie ich 3 Jahre überleben soll mit einem Bruchteil dessen, was ich zu Hartz4-Zeiten hatte. Ich weiß nicht, wie ich die Kraft aufbringen soll, all das zu tun, was ich tun muss, um zu leben. Es ist so kalt und finster hier drin.

 

 

 

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